Hochmut oder Demut?
Die Corona-Zeit muss umfassend aufgearbeitet werden
Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung heißt es: „Wir werden die Corona-Pandemie umfassend im Rahmen einer Enquete-Kommission aufarbeiten, insbesondere um daraus Lehren für zukünftige pandemische Ereignisse abzuleiten.“ Dr. Hontschick beklagt, dass nichts aufgearbeitet, geschweige denn geklärt ist und in der Politik längst wieder das Verteilen von Orden und Bundesverdienstkreuzen im Vordergrund steht.
Wenn es ein Wort gibt, das ich nicht mehr hören kann, dann ist es das Wort ‚Aufarbeitung‘. Überall wird aufgearbeitet. Der tausendfache sexuelle Missbrauch in den christlichen Kirchen wird aufgearbeitet. Das NS-Dokumentationszentrum kommt nach Nürnberg und hat viel aufzuarbeiten. Das Terrorregime in den Turn-Olympiastützpunkten wird aufgearbeitet. Für die Aufarbeitung der SED-Diktatur gibt es eine Bundesstiftung. Das Elend der Verschickungskinder während der frühen Bundesrepublik harrt noch immer der Aufarbeitung. Die Grünen in Berlin müssen den Fall Gelbhaar aufarbeiten. Für Atommüll gibt es Wiederaufarbeitungsanlagen. Den Vogel schießt aber derzeit die Aufarbeitung der Corona-Maßnahmen ab.
Der frühere Gesundheitsminister Spahn hatte schon früh angekündigt, dass wir einander viel verzeihen müssen. „Wir“? Inzwischen ist der erste Lockdown fünf Jahre her, und man hätte schon gerne gewusst, welche Lehren gezogen werden – und von wem. Klaus Reinhardt, der Präsident der Bundesärztekammer, ist für Aufarbeitung, warnt aber vor Schuldzuweisungen. Für Andreas Gassen, dem Vorstandsvorsitzenden der KBV, steht die Glaubwürdigkeit von Politik auf dem Spiel. Die größten Fehler wurden in der Altenpflege gemacht, sagt Eugen Brysch, der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz. Wenn die neue Regierung diese Aufgabe nicht wahrnimmt, dann werde ich es tun, sagt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Eine Sonderermittlerin soll die Maskenbeschaffung durch das Gesundheitsministerium aufarbeiten. Landtage wollen alles aufarbeiten, aber jetzt streiten sie sich erstmal darüber, was überhaupt aufgearbeitet werden darf. Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung heißt es: „Wir werden die Corona-Pandemie umfassend im Rahmen einer Enquete-Kommission aufarbeiten, insbesondere um daraus Lehren für zukünftige pandemische Ereignisse abzuleiten.“
Man hat ja einige Fragen im Kopf, für die man gerne eine Antwort hätte: Wer ist für das Hin und Her bei der Frage der Masken verantwortlich? Wer hat die Altenheime zu extraterritorialem Gebiet erklärt? Wer hat die Schließung der Kindergärten verfügt? Wer hat „2G“ als Eintrittskarte erfunden, also für Geimpfte und/oder Genesene? Wer hat Schulschließungen angeordnet, mit welcher wissenschaftlichen Begründung? Wer hat ständig Fachleute attackiert, zum Beispiel den Vorsitzenden der Ständigen Impfkommission, Thomas Mertens? Wer hat wann behauptet, die Impfungen seien ungefährlich, würden vor Erkrankung und Weitergabe einer Infektion schützen? Wer hat die Impflicht für alle im Gesundheitswesen Arbeitenden propagiert, mit welcher Begründung? Wer hat sich geweigert, die Patente der Impfstoffherstellung für die armen Ländern in der sogenannten Dritten Welt weiterzugeben? Fragen über Fragen. Ich weiß die Antworten auch nicht, denn an Aufarbeitung mangelt es ja hinten und vorne.
Hass und Wut, die während der Corona-Maßnahmen entstanden sind, finden sich auch in der Auseinandersetzung um die Aufarbeitung wieder, die für viele eher eine Abrechnung sein müsste. Ich kann das verstehen. Impfskeptiker, Maskenverweigerer, eigentlich alle Kritiker wurden zu jener Zeit ohne weiteres als Covidioten, Pandemietreiber, Schwurbler, Querdenker oder Coronaleugner, ihre Einwände als menschenverachtend diffamiert. Unvergessen sind die einsam Verstorbenen, die psychisch geschädigten Kinder (und Erwachsenen) und die vielen wirtschaftlichen Katastrophen.
Die selbsternannten Aufarbeiter müssen sich jetzt entscheiden. Entweder für die Methode Transparenz, also für die Demut: Sie können im Nachhinein ihre Entscheidungen nachvollziehbar öffentlich machen, sie können sich für Irrtümer und Fehler verantwortlich zeigen und erklären, warum sie immer wieder gegen den Rat der eigenen Experten entschieden haben, und sie sollten sich für die maßlose und überzogene Einschränkung der Grundrechte entschuldigen. Oder die Methode des Rechtfertigens, also für den Hochmut: alles wird mit nachträglicher Rechthaberei wieder untergepflügt, die Entscheidungen seien alternativlos gewesen, man habe ja so viele Menschenleben gerettet und die unerwünschten Wirkungen der Impfungen könne man vernachlässigen.
Obwohl also nichts aufgearbeitet, geschweige denn geklärt ist, ist man in der Politik aber längst wieder zum Verteilen von Orden und Bundesverdienstkreuzen übergegangen. So wird bestimmt kein Vertrauen wachsen, im Gegenteil.